Auswertung zum Seminar von 30./31. Januar 2010
Höffes Visionen einer gerechten Welt


Der Auftakt für 2010 war am letzten Januar- Wochenende. In einer 2tägigen Veranstaltung wurde über das Thema „Weltrechtsordnung und Weltrepublik: Unter welchen Voraussetzungen ist eine globale Demokratie vorstellbar?“ referiert und debattiert. An der Notwendigkeit einer solchen Themenstellung besteht kein Zweifel: Immer komplexer wird das Geflecht dringend zu meisternder globaler Probleme, und mit Recht drängt weltweit eine kritische Öffentlichkeit darauf, deren Lösung nicht nur dem Regierungshandeln der Mächtigen dieser Welt zu überlassen. Die Schaffung funktionsfähiger internationaler demokratischer Institutionen ist selbst zu einer Bedingung zur Lösung der globalen Probleme geworden.

Wolfram Tschiche stellte die Theorie Otfried Höffes vor. Die Auswahl dieses Autors erfolgte zu Recht, bestimmt doch Höffe schon seit Jahrzehnten zu einem erheblichen Teil den geisteswissenschaftlichen Diskurs in Deutschland mit. Vor allem auf dessen Schriften „Vernunft und Recht“ und „Demokratie im Zeitalter der Globalisierung“ stützten sich der Vortrag und die wie immer lebhafte Diskussion.

Sicherlich mag vieles in Höffes Theoriegebäude strittig sein – für humanistisches und gesellschaftskritisches, linkes Denken ist ein entscheidender Ausgangspunkt anregend, zu dem Höffe immer wieder zurückkehrt: Jedes Gemeinwesen, in dem der/die einzelne lebt, muss sich gegenüber dem/der einzelnen rechtfertigen können. Zwar ist der Mensch von seiner Beschaffenheit her auf ein Gemeinwesen angelegt, aber der Vollzug der Einzelinteressen wird vertraglich in solche Bahnen gelenkt, in denen wechselseitig auf Meinungszwang und wilde Handlungsfreiheit verzichtet wird. Individualität und Sozialität sind gleichrangig.

In jedem der politisch-philosophischen Seminare mit Wolfram Tschiche tritt ein interessantes Phänomen auf: Bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Seminarablaufs gleitet die Diskussion mitunter auch unsanft von der hohen philosophischen Ebene hinab in die Niederungen des menschlichen Alltags. So war es bei bei der gar nicht mehr theoretischen Frage, was es mit dem liberalen Freiheitsverständnis vom Vorrang autonomer Freiheitsrechte gegenüber den sozialen Rechten so an sich habe. Gestützt auf Texte von Höffe, machte der Referent auch seine eigene Position deutlich: Individuelle Autonomie wird nicht nur durch äußeren Zwang bedroht, sondern auch durch fehlende soziale Bedingungen, zum Beispiel eklatante Mangelsituationen wie Hunger und Unterentwicklung. Freiheit ist also nicht allein das oberste Recht, sondern sie ist eingebunden in eine Gemeinsamkeit von distributiver Gerechtigkeit und Autonomie des Individuums. „Zu deren Durchsetzung bedarf es aber der staatlichen Macht.“

Einwurf in der Diskussion: Und wenn es die staatliche Macht nicht tut? Wenn zum Beispiel der Staat ein Verfassungsrecht auf Arbeit gar nicht vorsieht? Etwas lapidar klang Wolfram Tschiches Antwort: „Solche Aushandlungsprozesse im Staat dauern lange.“ Politische Akteure und Philosophen könnten auch im Spannungsverhältnis von Freiheitsrechten und sozialen Rechten unterschiedliche Akzente setzen.

Zu Höffes Ehre muss gesagt werden, dass er selbst sehr wohl konkretere Aussagen zur politischen und Rechtsordnung getroffen hat, die diesen philosophisch formulierten Idealzustand durchsetzen soll – und auch zu den Tugenden der einzelnen, die erst, wenn sie denn massenhaft gelebt werden, eine gerechte Gesellschaft in der Praxis ermöglichen. Darüber wurde ausführlicher diskutiert. Wiederum für linkes Denken wichtig, wie Höffe das Prinzip der Subsidiarität versteht: „Staatliche Kompetenzen sind so weit unten anzusetzen, wie es der legitimatorischen Letztinstanz, dem Individuum, gut tut.“ Bei allem wichtigen und notwendigen Nachdenken über Emanzipation aus elenden und unwürdigen Verhältnissen – gerade den einzelnen Menschen als „legitimatorische Letztinstanz“ anzusehen ist zwingend, soll nicht eine emanzipatorische Bewegung wieder einmal neu hinein münden in einen Super-Staat, der den Menschen das Glück von oben bringen will und ihn so überrollt.

Otfried Höffe überträgt diese seine Auffassung über eine gerechte Gesellschaft auf die Ebene der Welt-Gesellschaft. Wie ist Weltfrieden als dauerhafter Zustand möglich? Höffe stützt sich bei seiner Antwort auf keinen Geringeren als Immanuel Kant, der immer wieder auf das Problem der Ermöglichung eines „ewigen Friedens“, gemeint ist der ewig währende Frieden, zurück gekommen ist. Diese Berufung auf Kant ist heute aktueller und dringender denn je, denn auch im 21. Jahrhundert ist die innerund zwischenstaatliche Diskussion über Krieg und Frieden zu oft geprägt durch bloßes Macht- und Gleichgewichtsdenken, wenn nicht gar unverhohlene Wirtschaftsinteressen oder rational nicht mehr nachvollziehbare Ideologien das Handeln bestimmen.

Der Krieg solle grundsätzlich geächtet sein, so Kants und darauf fußend Höffes kategorischer moralischer Friedens-Imperativ. Wer aber weiß, dass es trotz dieser moralischen Ächtung (allerdings ist diese durchaus nicht überall auf unserem Erdball so zustimmungsfähig!) immer wieder Kriege gibt, muss die Frage beantworten, wie das Ziel „Frieden“ möglich wird. Hierzu sagt Höffe viel Bemerkenswertes, das Wichtigste ist wohl seine auch aus dem leidvollen 20. Jahrhundert erwachsende Erkenntnis: Wer den Krieg überwinden will, muss alles unterlassen, was den anzustrebenden Frieden künftig unmöglich machen wird.

Die beste Lösung wäre eine Weltrepublik. Realistischer ist es aber, zu einem Staatenbund zu gelangen, der sich den Prinzipien einer weltweiten Gerechtigkeit verpflichtet fühlt. Das von Höffe anvisierte innerstaatliche Recht einer gerechten Gesellschaft wird ergänzt durch ein Weltbürgerrecht. Und hierzu unterbreitet er nun in seinen Schriften einen ganzen Katalog nicht nur wohlmeinender Ideen, sondern aus der politischen Praxis der vergangenen Jahrzehnte geschöpfter Forderungen.

Auf einen Nenner gebracht, ist Höffes Vision die einer föderalen Weltrepublik als einziger sinnvoller Antwort auf die Globalisierung. Unverzichtbar ist im Interesse der Gerechtigkeit die universelle Geltung der Menschenrechte. Dass Menschenrechte eventuell kultur-, also entwicklungsstandabhängig sein könnten, bestreitet Höffe vehement. Wieder greift Höffe die Idee des Indiduums als legitimatorische Letztinstanz auf: Auch auf der Ebene der Weltordnung, nicht nur innerstaatlich, gelten die Interessen der einzelnen. Der Staat hat demgegenüber sein Handeln jederzeit zu begründen, gerade weil staatliche Interessen oft nicht stabil sind.

Also muss diese Höffesche Weltrepublik föderal sein. Die Menschheit muss zu einem neuen Gesellschaftsvertrag gelangen: weltstaatlich und weltbürgerlich. Daran schließen sich konkrete Forderungen zur Ausgestaltung der jetzigen supranationalen Organisationen, allen voran der UNO, ihrer Generalversammlung, ihres Sicherheitsrates, des Internationalen Gerichtshofes. Besonderes Gewicht erhalten im Höffeschen Forderungskatalog kontinentale Zwischenstufen etwa nach dem Modell der Europäischen Union. Dabei ist sich Höffe sehr wohl der Macht global agierender Konzerne bewusst. Seine Texte, in denen er die Globalisierung als ökonomisches Phänomen analysiert, wirken wie von Globalisierungskritikern geschrieben: global koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik mit Tobin-Steuer, subsidiärer Weltbank, global gültige Sozialstandards, globaler Umweltschutz. Alles ordnet Höffe dem Ziel unter, einen an den Menschenrechten ausgerichteten „sozialen und ökologischen Weltmarkt“ auf den Weg zu bringen.

Ein auch emotional bewegender Streitpunkt in der Diskussion war die Frage, ob die jetzige internationale wirtschaftliche Verflechtung eine friedensfördernde oder kriegstreibende Funktion besitzt. Oder noch konkreter: Wie ist heute, angesichts des anhaltenden Krieges in Afghanistan oder der entsetzlichen Völkermorde, die in den letzten Jahrzehnten in Afrika stattgefunden haben, Frieden zu erreichen? Neigen wir vom sicheren Mitteleuropa aus dazu, politischem Terrorismus und Genozid nur zuzuschauen? Über solche Themen wie Menschenrechte, Pazifismus, Sinn oder Unsinn „humanitärer Interventionen“ muss nicht nur in der politischen Linken, sondern in der gesamten Öffentlichkeit weiter gestritten werden – darüber waren sich alle Anwesenden einig.

Worin liegt die besondere Bedeutung dieser Seminar-Reihe? Sie liefert erstens Bausteine zur theoretischen Fundierung heutiger alternativer Gesellschaftspolitik. Bedeutende Denker aus jüngerer Vergangenheit und Gegenwart wurden schon ausgewertet: Camus, Sartre, Kolakowski, Adorno, Habermas. Ideengeschichtliche Hintergründe des „Prager Frühlings“ waren ebenso Thema wie die DDR-Opposition und die Runden Tische 1989/1990. Und zweitens kommen die Teilnehmer/innen der Seminare sehr zahlreich nicht nur aus dem eigentlichen linken Spektrum. Diese Seminare sind so ein Stück praktizierten offenen Dialogs zwischen LINKS und anderen in der Zivilgesellschaft verankerten Akteuren. Das nächste Seminar wird sich mit dem Wirken Robert Havemanns und gesellschaftlichen Utopien befassen.

Bernd Augustin, 16.02.2010


oben
zurück